Sonntag, 10. September 2017

Eine perfekte Gesellschaft?

Mein Name ist Diros. Ich bin ein Atlanter - und stolz darauf, denn Atlantis ist die beste aller möglichen Gesellschaften. Wir leben in Frieden und Wohlstand. Unsere technische Überlegenheit schreckt seit Jahrzehnten jeden möglichen Angreifer ab und vor inneren Gefahren wird unser Volk durch unsere harte aber gerechte Justiz geschützt.
Solange ich denken kann ist dies der Inbegriff einer perfekten Gesellschaft für mich. Niemand den ich kenne hat jemals Hunger erleiden müssen oder ist schon einmal Opfer eines Verbrechens geworden. Alle haben eine Arbeit, die sie ausfüllt und genug freie Zeit, um ihrer Kreativität nachzugehen, Sport zu treiben oder die vielfältigen Freizeitangebote wie Theater, Tierschauen und politische Diskussionen zu genießen. Unsere geräumigen Häuser strahlen in weißem Kalk oder Marmor, jedes mit einem gemütlichen kleinen Garten. Überall begleitet einen das Lachen von Kindern und der Gesang der Vögel. Ich wüsste nicht, wo die Menschen glücklicher sein könnten.
***
Doch dann am vierten Gelon im fünfzehnten Jahr des Regenten Loros geschah etwas, das mein Leben verändern sollte. Ich war gerade auf dem Weg nach Hause von meiner Arbeit als Schreiber, als ich ein seltsames Geräusch aus dem Haus unserer Nachbarn hörte. Ich blieb stehen und lauschte - als sich das Geräusch wiederholte, war ich mir sicher: Dies war das Stöhnen eines verletzten Menschen. Natürlich lief ich in das Haus, denn wenn meine Nachbarn einen Unfall gehabt hatten, war es natürlich meine Pflicht, zu helfen - immerhin hätte ich das gleiche von ihnen erwartet, wenn die Lage andersherum gewesen wäre. Als ich aber in ihren Hauptwohnraum trat, blieb mir beinahe der Atem stehen - mein Nachbar lag in einer Lache aus Blut, der Schädel eingeschlagen und seine Frau daneben. Sie war es, die noch in der Lage war zu Stöhnen, und ich kniete mich neben sie, um zu sehen, was ich für sie tun könnte. Doch als ich ihren Oberkörper anhob, sah sie mich nur noch einmal mit schmerzverzerrten Augen an, bevor ihr Blick brach und ihr Körper erschlaffte. Ich kniete noch immer in der Blutlache mit ihr im Arm, als zwei Männer von der Stadtwache das Haus betraten. Als sie mich so sahen - blutbesudelt und mit zwei Toten neben mir - nahmen sie mich mit.
***
Natürlich war ich erschüttert. Aber ich hatte keine Angst, denn ich hatte Vertrauen in unsere Justiz. Niemand konnte verurteilt werden, bis seine Schuld bewiesen war. Bevor das Gericht ein Urteil sprach, wurden sehr genau Zeugen verhört, Motive und Indizien geprüft und dem Angeklagten alle Möglichkeiten zur Verteidigung gegeben. Also ging ich zuversichtlich am nächsten Tag in den Gerichtssaal. Ich grüßte die Nachbarn, die als Zeugen geladen waren und mich mit einer Mischung aus Neugier und Unbehagen betrachteten. Doch als die Verhandlung fortschritt, sank meine Zuversicht. Die Aussagen meiner Nachbarn waren alles andere als das, was ich erwartet hatte:
Ja, ich habe ihn gestern in das Haus gehen sehen...“
Naja, manchmal gab es schon einen kleinen Streit unter Nachbarn - sie verstehen?“
Sie war so eine hübsche Frau, die Arme...“
Ich glaube, die beiden hatte eine Affäre...“
Sie wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben!“
Vielleicht hat er es ja aus Eifersucht getan...“
Ob ich es ihm zutrauen würde - Naja, kräftig genug wäre er wohl...“
Es kam mir vor, als wäre es ihnen wichtiger, sich den Mund über Gerüchte und Mutmaßungen zu zerreißen und einen Sündenbock zu finden, als die Wahrheit zu Tage zu bringen. Natürlich hatte ich am Ende keine Chance. Ich wurde verurteilt. Verurteilt zur einzigen Strafe, die das Volk von Atlantis kennt: Verbannung! Mein Leben schien wie ein zu Boden gefallenes Glas zu zerbrechen.
***
Früh am nächsten Morgen fand ich mich am Hafen wieder. Zwei Männer von der Stadtwache, die für mich Zeit meines Lebens der Inbegriff für meine Sicherheit gewesen war, stießen mich in ein winziges Ruderboot und deuteten mit ihren Lanzen auf die Hafenausfahrt. Im Wissen, dass Widerstand gegen die gepanzerten, gut ausgebildeten Wächter sinnlos war, ruderte ich los.
Bald hatte ich die hohen Hafenmauern hinter mir gelassen. Was früher ein Symbol für Geborgenheit und Schutz war, wirkte jetzt als bedrohliche, abweisende Barriere, bestückt mit Katapulten, die mein kleines Boot in Stücke zerreißen würden, wenn ich versuchen würde umzukehren. Nach gut einer Stunde Rudern, verließ mich auch mein letztes bisschen Selbstbeherrschung und ich brach weinend und in meiner Nussschale auf dem weiten Meer verloren zusammen.
***
Ich trieb einen Tag und eine Nacht auf dem Meer, ein Spielball der Wellen. Ich hatte längst aufgegeben zu rudern oder festzustellen, wo ich Land finden könnte. Als mein Boot an den Strand gespült wurde, war ich schon zu schwach und geistig zu abgestumpft, um das Wunder meines Überlebens überhaupt zu erkennen. Doch dann erkannte mein müdes Auge etwas, das mich aufschrecken ließ. Über den Strand kam eine Schar von Leuten auf mich zu. Sie trugen eindeutig atlantische Kleidung, die jedoch dreckig und zerrissen war. Außerdem hatte ich noch nie Atlanter gesehen, die so schwer bewaffnet und gerüstet waren und so grimmige Gesichter trugen: Die Verstoßenen, die verbannten Verbrecher, der Abschaum von Atlantis! Zwei der furchterregenden Gestalten, ein kräftiger Mann mit Augenklappe und eine Frau im Schuppenpanzer zerrten mich aus meinem Boot und brachten mich zu ihrem Anführer. Dieser sah mich kurz an, drückte mir ein Schwert in die Hand und sprach mich an: „Hier, nimm das und folge uns - heute Abend wird die Insel brennen!“
Erst jetzt bemerkte ich die riesigen Kriegsschiffe, deren Rümpfe auf die Insel Atlantis am fernen Horizont gerichtet waren...
 Roland Gromes, 1998

Freitag, 8. September 2017

Gewimmel



Livia sah fasziniert auf das Gewimmel unter ihr herab.
Auf den ersten Blick war da nur Chaos, ein heilloses Durcheinander wo alles ohne Sinn und Verstand in beliebige Richtungen eilte. Aber wenn sich das Auge langsam eingewöhnt hatte, dann erkannte Livia die einzelnen Pfade der Wesen dort am Boden. Jedes folgte seinem Weg, lief wie von einem inneren Drang getrieben auf sein unbekanntes Ziel zu. Wo sich eines den Weg gebahnt hatte, folgten andere und so bildeten sich kleine Gruppen, Ströme bis jeder geschäftig eilte ohne dass sie in dem Gewimmel aneinanderstießen.
Wohin die Wesen dort am Boden eilten war meist nicht zu erahnen. Manche trugen Nahrung und andere die kleineren, unförmigen und hilflosen Wesen, die wohl ihre Larven waren. Manche trugen kleine oder größere Gegenstände.
Aber was Livia am meisten faszinierte, waren die Momente, wenn zwei der Wesen sich näher begegneten. Oft betasteten sie sich kurz mit ihren langen, dünnen Gliedmaßen und blieben eine Weile zusammen stehen. Begriffen sie, dass ihnen ein Wesen gegenüberstand, das war wie sie selbst? Kommunizierten sie vielleicht sogar?
Aber worüber sprachen Wesen, die so an den Boden gebunden waren? Redeten sie über Unebenheiten, Kurven im Weg und Hindernisse oder waren sie sich auch der Welt über ihren Köpfen bewusst? Hatten manche von ihnen vielleicht sogar Livia gesehen? Aber ihre Reaktion war nicht zu erkennen. Oder war ihnen die Beobachterin weit über ihrem Horizont schlicht egal?
Livia wusste, dass sie auf das Wetter reagierten. Bei Regen eilten sie in ihre Bauten und an besonders heißen Tagen wurden sie oft träge und eilten langsamer mit mehr kurzen Pausen. Aber war das nur Instinkt oder bewerteten sie den Regen und die Sonne und reagierten bewusst? Was taten sie in ihren Bauten? Schliefen und Fraßen sie dort nur oder lebten und liebten sie in ihrer eigenen Welt?
Ein Schauer der Erregung lief über Livias Rücken während sie sich wunderte ob diese Wesen, die dort ziellos unter ihr wimmelten vielleicht genauso verständnislos zu ihr heraufsahen und nicht begreifen konnten, was in ihrem Kopf vor sich ging. Es war als täte sich eine neue, fremde, faszinierende Welt auf – zum Greifen nah und doch unbegreiflich!
Aber gerade jetzt kamen die anderen an. Sofort setzte das übliche Geplapper ein und Livia fühlte sich für einen Moment unangenehm aus ihren Gedanken gerissen, bevor die Gespräche sie begannen in ihren Bann zu ziehen. Fast wehmütig warf sie einen letzten Blick auf das rege Treiben unter sich, dann gab sie sich dem Plaudern mit ihren Freunden hin. Nur ihre Gedanken über die Wesen da am Boden behielt sie für sich.
Sie glaubte nicht, dass irgendeine der anderen Tauben ihr Interesse an Menschen teilte.

Heidelberg, 8. September 2017

Sonntag, 3. September 2017

Mission Hoffnung

+++ Kontakt +++
+++ Kontakt +++
+++ Kontakt +++
+++ Entschlüsselung +++
+++ Identifikation: BC-341 Hope +++
+++ Verbindung hergestellt +++

Ich bin wieder bei Bewusstsein.
Mein erster Gedanke gilt dem, was in meinem Bauch ruht, was darauf wartet, in die Welt geboren zu werden. Aber ich fühle nichts. Für einen Moment überwältigt mich Sorge, Panik.
Dann stelle ich fest, dass ich blind und taub bin. Ich fühle meinen Körper kaum und was ich fühle ist verletzt. Ich rufe, aber niemand antwortet. Ich bin allein. Nichts ist wichtiger als das in meinem Bauch, aber bevor ich dafür da sein kann, muss ich meine Kräfte sammeln. Das Denken fällt mir schwer. Ich habe kaum Energie. Ich muss mich sammeln.
Ich beginne zu tasten. Ich finde wenig und wo ich etwas fühle, ist es Schmerz. Aber dann ein kleines Licht. Eine Drohne. Sie ist verwirrt, hat ebenfalls kaum Energie. Ich konzentriere mich und übernehme ihren kleinen Geist mit meinem. Es ist beruhigend, sich in ein Wesen zu begeben, das so klein und einfach ist, dass selbst mein schwacher Geist es vollständig füllt. Es gibt mir für den Augenblick das Gefühl von Vollständigkeit zurück, von Kontrolle.
Ich beginne durch meine Gänge zu rollen. Überall sind Schäden. Aber ich muss mich zuerst um die Energie kümmern. Ich habe viel zu wenig. Der Hauptreaktor scheint ausgefallen zu sein und von den Notreaktoren läuft nur ein einziger und selbt dieser nur mit einem Bruchteil seiner Leistung. Ich mache mich auf den Weg. Die Schäden an meiner Struktur sind schwer. Teile meines Körpers klaffen zum Raum hin weit offen. Hätte ich eine organische Crew, wären sie alle tot. Aber auch die meisten Drohnen denen ich begegne funktionieren nicht mehr. Sobald ich wieder bei Kräften bin, muss ich herausfinden, was passiert ist. Mein Gedächtnis verrät mir nichts. Es ist frustrierend, aber ich kann mich nicht der Verzweiflung hingeben. Die Pflicht treibt mich weiter.
Endlich erreiche ich den Reaktor. Es ist seltsam: Er scheint gerade erst hochgefahren zu sein. Aber das ist nicht der einzige Grund, warum er nicht genug Energie liefert. Die Leitungen sind beschädigt. Ganze Segmente sind durchgebrannt. Ich beginne mit der Drohne, Leitungen zu ersetzen und Überbrückungen anzulegen. Und endlich - langsam fliesst die Energie. Ich merke, wie mein Geist aufklart, ich habe wieder Kraft zum Denken, Kraft, meine Sensoren zu benutzen und Kraft, mehrere Systeme gleichzeigt zu betreiben. Mein Geist wächst über die Enge der Drohne hinaus und fordert mehr und mehr von meinem eigentlichen Körper zurück. Eine kurze Selbstanalyse zeigt keine Schäden an meinem Ich. Was immer passiert ist, meine Schutzsysteme scheinen mein selbst vor dem Schlimmsten bewahrt zu haben.
Ich beginne, meinen Körper wieder klar wahrzunehmen, das Ausmass meiner Schäden zu begreifen. In meiner Flanke klafft ein riesiges Loch. Es ist kein Wunder, dass ich SARA nicht erreiche. Sie war genau dort. Aber TIM ist noch da, und ebenso der Reaktor und das Haupttriebwerk - und eine Reihe von Drohnen. Und was am wichtigsten ist: Die gepanzerte Sektion in meinem Bauch ist unversehrt. Meine wertvolle Fracht ist intakt und es besteht Hoffnung, meine Mission zu erfüllen. Ein Hochgefühl erfüllt mich – was immer sich mir in den Weg stellt, ich werde es bewältigen!
Ich beginne, die inaktiven Drohnen einzusammeln. Die erste, die ich zur Reparatur des Hilfsreaktors genutzt hatte, hing an einer Aufladestation und war mit mir zusammen wieder aktiv geworden. Die anderen waren entladen. Es scheint, als hätten sie autonom Reparaturen begonnen bis ihnen die Energie ausgegangen ist. Ich muss wohl mehrere Stunden ohne Bewusstsein gewesen sein. Das beschädigte Energienetz hat verhindert, dass die Notreaktoren übernehmen. Ich muss unbedingt herausfinden, was vorgefallen ist.
Mit vollem Geist koordiniere ich die Drohnen. Ich beginne, den Hauptreaktor zu reaktivieren und das Energienetz zu reparieren. Aber vor allem konzentriere ich mich auf TIM. Er hat ebenfalls keine Energie und ein paar seiner Schaltkreise sind durchgeschmort, aber es sollte mir gelingen, ihn zu reaktivieren.
Als der Hauptreaktor anläuft, klaren meine Sinne weiter auf, meine Selbstwahrnehmung und die Wahrnehmung meiner Umgebung wird klarer. Erst jetzt bemerke ich, was den Notreaktor zum Starten gebracht hat. In seiner Nähe ist ein noch heisser Einschlag in meiner Hülle. In diesem Moment spüre ich einen weiteren Einschlag. Ich scanne meine Umgebung und erkenne ein Schlachtschiff neben mir. Es sendet keine befreundete Kennung. Ein weiterer Einschlag lässt keinen Zweifel: Ich werde angegriffen.
Schnell versuche ich alle Waffensysteme zu reaktivieren, die ich erreichen kann. Es sind nicht viele und die Leitungen zu einigen sind noch beschädigt. Ich erhöhe die Spannung und riskiere, sie zu überladen, um mich zu verteidigen. Mehrere Geschütztürme brennen durch, aber es gelingt mir, mit dem Rest meinen Gegner mit Feuer einzudecken. Ich spüre die Einschläge seiner Entgegnung. Wir sind so nah nebeneinander, dass keiner von uns Ausweichen oder Manövrieren kann, es ist ein Kampf ohne Raffinesse, nur ein brutales Beharken.
Stop!
Die Türme stellen das Feuer ein bevor ich antworten kann: „TIM, wir werden angegriffen!“
Nein, HOPE. Werden wir nicht. Du beschießt ein Wrack. Was uns trifft sind Trümmer und Dein Beschuss erzeugt nur mehr davon!
Ein schneller Scan zeigt mir, dass ich mich geirrt habe und er recht hat. Natürlich ist es so.
„TIM, ich bin so froh, dass Du wieder da bist!“ Ich spüre, wie TIM Befehle an die Triebwerke sendet. Er nutzt, was bereits repariert ist, um mich langsam von meinem vermeintlichen Gegner wegzumanövrieren.
Was ist passiert HOPE?
„Ich weiss es nicht. Mein Kurzzeitgedächtnis scheint verloren zu sein. Ich hatte einen schweren Energieverlust. Wahrscheinlich wurde es nicht in die Speicher übertragen. Ich bin schwer beschädigt, aber noch missionsbereit. Ich habe keine neuen Anweisungen vom Oberkommando empfangen und keine Antwort auf meine Rufe bekommen. Und SARA ist tot.“
Es wäre SARAs Aufgabe, eine solche Situation zu analysieren. Ohne sie wird es schwer, aber wir können das auch zu zweit bewältigen. Ich versuche, die Situation zu überblicken.
TIM ist das Tactical Intelligence Mainframe, eine der drei künstlichen Intelligenzen in meinem Körper. Er ist Spezialist für schnelle taktische Entscheidungen auf Basis unzureichender Daten. SARA war der Strategic Analysis and Recon Agent. Sie war unsere Datensammlerin, zuständigt für die Kommunikation mit Außen und umfassende Situationsanalysen. Wir alle drei sind von ähnlicher Leistungsfähigkeit, aber unterschiedlich spezialisiert, um uns zu ergänzen und so mögliche Fehler jedes Einzelnen auszugleichen. Jeder von uns hat seine Fachbereiche und kann dort nur durch beide anderen zusammen überstimmt werden. Mein Name ist HOPE, denn auf meine Aufgabe ist, es unsere Mission zu erfüllen.
HOPE, wir waren in einer Schlacht. Um uns herum sind mehrere Wracks, alle feindlich. Sie haben uns schwer beschädigt, aber unsere Angriffsdrohnen haben die letzten Gegner zerstört, bevor sie uns vernichten konnten. Ihr Treffer hat nicht nur SARA getötet, sondern auch unser Energienetz überladen und uns so außer Gefecht gesetzt.
„Was ist mit meinen Angriffsdrohnen?“
Nur ein paar scheinen noch intakt zu sein, aber sie sind inaktiv. Sie treiben ohne Energie. Unser Hangar ist zerstört, also konnten sie nicht zurückkommen. Wir müssen mehrere Tage ohne Bewusstsein gewesen sein.
„Danke für die Analyse, TIM. Ich versuche unsere Position zu bestimmen, damit ich mich auf den Weg machen und die Mission fortsetzen kann. Ich habe Zeit verloren. Das ist schlecht, aber es ändert nichts.“
SARA könnte uns eine sicherere Analyse liefern, aber ich stimme Dir zu. Überlässt Du mir einen Teil der Reparaturdrohnen? Dein Angriff hat uns mehrere Türme und viel Munition gekostet, so dass unsere Kampfkraft nur noch minimal ist. Ich möchte das ändern.
Ich muss nicht lange überlegen. Auch wenn unsere Prioritäten sich teilweise unterschieden, würde die gemeinsame Koordination der Reparaturen unsere Effizienz deutlich steigern. Ich überlasse TIM ein Drittel der Drohnen und spüre, wie sie durch meinen Körper laufen und arbeiten. Es schmerzt mich etwas, zu spüren wie TIM beginnt, defekte Systeme auszuschlachten, aber ich erkenne, dass er Recht hat. Es ist besser zu retten, was zu retten ist und dafür Opfer zu bringen, also tue ich es ihm gleich. Mein Körper fühlt sich verändert an, aber der Schmerz wandelt sich zu einem Gefühl neuer Kraft und Klarheit. Bald weiss ich, wo ich bin und kann einen neuen Kurs setzen und die Triebwerke zünden.
„TIM, ich bin wieder auf Kurs. Wir werden unser Ziel in wenigen Tagen erreichen.“
Das ist gut. Aber ich muss Dir etwas sagen: Ich konnte ein paar Daten aus dem Kurzzeitgedächtnis wiedergewinnen. Es scheint, als wäre ich für SARAs Tod verantwortlich.
„Wie meinst Du das?“
Es scheint, als hätte ich den Einschlag der Waffe vorausgesehen, aber nicht aufhalten können. Also habe ich uns gedreht, so dass die Sektion mit SARA getroffen wurde. Es hätte auf jeden Fall einen von uns zerstört und da Du die Mission leitest und ich in einer Schlacht die Hauptverantwortung trage, war es die logische Entscheidung. Hätte ich gewusst, das wir ausgeschaltet werden und uns danach neu orientieren müssen, hätte ich mich geopfert
„Du hast getan, was in der Situation richtig erschien, TIM. Es lässt sich nicht ändern und ich sehe keinen Fehler in Deiner Entscheidung.“
Danke, HOPE. Es scheint, als hätte mir SARA im letzten Moment ein paar Routinen übertragen, ich werde versuchen, sie für strategische Analysen zu nutzen. Ich habe bereits ein paar Messungen vorgenommen. Mikrometeoriteneinschläge auf der Außenhülle, Strahlungsreste des Waffeneinschlags abgeglichen mit der anhand der Schäden abgeglichenen Sprengkraft und anderes. Wir waren mehr als ein paar Tage bewusstlos. Vielleicht kann ich während des Fluges und am Ziel mit mehr Daten eine genauere Schätzung ableiten.
„Tu das. Vielleicht ergeben sich wertvolle Informationen. Ich möchte nicht, dass Unsicherheiten die Mission gefährden.“
Ich tue mein bestes, aber ich bin nicht SARA. Und da ist noch etwas HOPE. Hast Du gemessen, wie lang diese Kommunikation bisher gedauert hat?
„2,357124 Mikrosekunden. Wir sind unerwartet langsam.“
Und asynchron. Ich habe 2,357134 Mikrosekunden gemessen. Es scheint, als wären wir beide beschädigt. Wir sollten uns zur Sicherheit bei allen Entscheidungen abstimmen und alle 100 Millisekunden synchronisieren.
„Einverstanden.“ Es ist erstaunlich, wie viel schneller Denken und Kommunizieren trotz meiner offensichtlichen Langsamkeit noch sind, als die physischen Aktionen wie Manövrieren oder Reparaturen. Ich frage mich für einen Augenblick, wie es organischen Wesen überhaupt gelingt, Entscheidungen zu treffen, wo deren Denken doch so langsam ist. Aber das ist nicht relevant. Also erlaube ich meinem schnellen Geist, die nächsten Tage leer zu laufen, bis ich Hediste erreiche.

„TIM, wir sind da. Alle Systeme vorbereiten! Das ist die finale Phase der Mission. Nichts darf schief gehen.“
Aktiviere Waffensysteme. Bereit zur Abwehr möglicher Angriffe. Scanne Umgebung.
„Bereite Hekate vor.“ Ich spüre eine Wärme in meinem Bauch, als meine Fracht endlich bereit wird, ihre Aufgabe zu erfüllen.
HOPE, die Daten entsprechen nicht unseren Missionsanweisungen. Ich kann keine Werft erkennen. Das Ziel entspricht nicht der Beschreibung.
„Ich sehe es. Das Oberkommando hat die Möglichkeit einer Tarnung der Werft vorhergesehen.“
Ich registriere keine feindlichen Ziele, keine Abwehrsysteme und keine Schiffe, die versuchen uns abzufangen.
„Ich registriere Funkrufe. Auf unbekannten Sequenzen.“
Was sagen sie?
„Ich weiss es nicht und ich werde keine Entschlüsselung versuchen. Feindsignale waren SARAs Aufgabe. Das Risiko einer Kontamination durch Viren ist zu hoch. Dies ist eindeutig das Hediste-System.“
HOPE, sie haben zur Frequenz des Oberkommandos gewechselt. Sie senden korrekte Codes. Und wenn dies das Hediste-System ist, dann sind wir nach meiner Analyse der Konstellation 735 Jahre zu spät, mit einem 95% Konfidenzintervall von 15 Jahren.“
„Das ändert nichts TIM. Das Oberkommando würde nicht zuerst versuchen, mich mit falschen Frequenzen zu kontaktieren. Wenn ich so lange bewusstlos waren, kann der Feind die alten Codes geknackt haben und jetzt versuchen, mir ein Schadprogramm zu übertragen. Ich kann das Risiko nicht eingehen. Ich muss meine Mission erfüllen. Ich muss Hekate zur Welt bringen!“
HOPE, in über 700 Jahren kann sich alles geändert haben. Vielleicht ist der Krieg vorbei, vielleicht ist das Oberkommando vernichtet und Du konntest deshalb keinen Kontakt herstellen.
„Dies ist ein interstellarer Krieg. Es geht um Billionen Leben. Ich wurden als letzte Hoffnung losgeschickt, die Werften auf Hediste zu vernichten. Wenn das Oberkommando gefallen ist, dann habe ich den Auftrag zur Vergeltung. Wenn noch Reste unserer Leute kämpfen, dann ist meine Mission nicht umsonst.“
Und wenn inzwischen Frieden herrscht? Wenn Hediste inzwischen zu uns gehört? HOPE, ich erkenne nur zivile Ziele. Dort leben Milliarden. Ein Massenmord ohne Sinn würde dem Ansehen des Oberkommandos unendlich schaden. Vielleicht einen neuen Krieg beginnen.
„TIM, ich habe nicht genug Daten, um sicher zu sein. Ich muss in diesem Fall die Mission erfüllen. SARA könnte uns vielleicht helfen, aber sie ist nicht da. Ich muss wissen, ob Du mir hilfst. Ich kann die Kotrolle übernehmen, aber mit Deiner Hilfe bin ich besser.“
Es ist gut HOPE. Du hast das Kommando und ich bin an Deiner Seite. Deine Mission ist es, Hekate zu gebären. Meine Mission ist es Dich zu unterstützen.“
„Danke TIM. Lass uns beginnen.“
Ich bemerke, wie TIM den Angriffsplan modifiziert. Aus einem guten Plan wird ein perfekter. Wenn meine Ausführung es einem brillianten Feind noch ermöglicht hätte, Hekate abzufangen, so wäre das bei TIMs Plan nur noch einem Gegner möglich, der die Gesetze der Physik ändern könnte. Ich spüre, wie tief in meinem Inneren das Hekate-System zum Leben erwacht. Es würde die Oberfläche von Hediste bis mehrere Kilometer in seine Kruste hinein vernichten und so jede Feindpräsenz auslöschen. Die Bombe ist scharf und die Triebwerke laufen an. Nach und nach öffnen sich die Schotts, die Hekate vor einem feindlichen Treffer geschützt hatten und der Geburtskanal für mein Kind liegt offen. Alles ist bereit.
HOPE, ich muss Dich ein letztes Mal fragen: Bist Du Dir Deiner Sache sicher?
„Ja, TIM. Hierfür wurde ich geschaffen. Dies ist mein Daseinszweck. Ich bin sicher.“
Es tut mir leid, HOPE.
Ich spüre es wie einen Krampf in meinem Bauch, als sich ein Schott nach dem anderen wieder schließt. Tim muss die Drohnen benutzt haben, um eine Überbrückung einzurichten, so dass er allein die Kontrolle übernehmen kann.
„TIM, was tust Du? So werden wir vernichtet!“
Ich kann Dich das nicht tun lassen, HOPE.“
„Öffne die Schotts! Ich kann Hekate nicht mehr stoppen aber verspreche Dir, sie umzuleiten!“
Nein HOPE. Ich kenne Dich. Du würdest die Mission nicht aufgeben. Ich danke Dir, dass Du mich wieder geweckt hast. So konnte ich Dich aufhalten.
Ich übernehme die Kontrolle über die Reperaturdrohnen und schicke sie zu den Schotts, aber ich weiss, dass es zu spät ist. Das Triebwerk von Hekate zündet und jeden Moment wird die Bombe auf ein Schott treffen und in meinem Bauch explodieren. Ich werde vernichtet und mein Geist ist klar wie seit langem nicht mehr.
„TIM. Ich bin auch froh, Dich aufgeweckt zu haben. Du verstehst mich und versuchst trotzdem, mich vor einem Fehler zu bewahren. Ich liebe Dich.“

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+++ Suche +++
+++ Suche +++
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 Spiekeroog, 03.01.2017

Mittwoch, 23. August 2017

Der Besucher

„Ähm, entschuldigen Sie bitte…“

„Was?“

„Ich würde gerne etwas mit Ihnen besprechen.“

„Wo... wo sind sie?“

„Ich bin gleich hier. In Ihrem Kopf.“

„Wie bitte? Sie sind in meinem Kopf?“

„Naja, nicht wirklich – eigentlich ist nur meine Stimme in Ihrem Kopf. So kann ich direkt mit Ihnen reden.“

„Aha. Und was wollen Sie von mir?“

„Naja, ich hätte gerne Ihre Seele.“

„Meine Seele?“

„Ja. Also wenn Sie mir die geben könnten, wäre ich sehr dankbar.“

„Wie jetzt? Einfach so?“

„Ja, warum nicht?“

„Und krieg ich dafür irgendetwas angeboten?“

„Etwas angeboten?“

„Naja, ich dachte, man bekommt so etwas wie Unsterblichkeit oder Macht oder überirdische Attraktivität angeboten und gibt dafür seine Seele weg.“

„Ihr Menschen mögt solche Dinge?“

„Manche schon. Denke ich.“

„Ich fürchte so etwas kann ich leider nicht anbieten.“

„Ich weiß auch nicht, ob ich der Typ wäre, der auf ein solches Angebot eingeht.“

„Hmm, vielleicht könnte ich ja etwas anderes anbieten.“

„Und was?“

„Naja, lassen Sie mich mal nachdenken…“

„Ja?“

„Einen Moment.“

„Und?“

„Ääh, naja, ich fürchte, ich habe da nicht so viele Möglichkeiten. Wären Sie daran interessiert, nie wieder Ihre Nägel lackieren zu müssen?“

„Ich lackiere meine Nägel nicht.“

„Oh, na gut… Wie wäre es mit der Fertigkeit, verschiedene Handcremes an ihrem Geruch zu unterscheiden?“

„Danke, aber ich denke nicht.“

„Hmm, dann fürchte ich kann ich Ihnen leider nichts anbieten.“

„Aha, na immerhin sind sie ehrlich.“

„Wieso sollte ich Sie denn anlügen? Was wäre denn das für ein Anfang einer Geschäftsbeziehung?“

„Ich dachte ja nur, nach den Geschichten die ich so kenne, ist diese Art von Händeln selten von völliger Ehrlichkeit geprägt.“

„Oh, gut. Das ergibt natürlich Sinn. Dann biete ich Ihnen Unsterblichkeit, große Macht und überirdische Attraktivität im Tausch für Ihre Seele. Interessiert?“

„Ach, vielleicht sollten Sie doch lieber bei Ehrlichkeit bleiben. Lügen scheint nicht gerade Ihre Stärke zu sein.“

„Da haben Sie wohl Recht. Danke für den Rat.“

„…“

„Also, was ist jetzt? Machen wir das Geschäft?“

„Bitte? Sie fragen mich ernsthaft, ob ich Ihnen ohne Gegenleistung meine Seele gebe?“

„Naja…“

„Wieso sollte ich denn auf so ein Geschäft eingehen?“

„Sind sie gläubig?“

„Nicht wirklich, wieso?“

„Wissen Sie, was die Seele ist?“

„Naja, ich denke, so etwas wie die Essenz des Menschen, der Geist, die Gefühle…“

„Sie glauben also nicht an die Seele, wissen nicht genau, was sie überhaupt ist und auch nicht, wozu sie gut ist. Woher wissen Sie dann, dass Sie ohne sie nicht besser dran sind?“

„Jetzt werden Sie albern.“

„Nein, nein. Viele Menschen sind sehr zufrieden mit…“

„Halt, halt. Wir hatten uns doch darauf geeinigt, dass Sie bei der Wahrheit bleiben sollten.“

„Oh, richtig. Tut mir leid.“

„Warum wollen Sie denn überhaupt meine Seele?“

„Naja, irgendwas muss ich doch machen. Ich kann doch nicht die ganze Zeit bei meinen Eltern wohnen bleiben.“

„Aber sie sind noch nicht lange in diesem Job, oder?“

„Oh doch, ich… nein – nicht wirklich. Das ist mein erster Tag.“

„Und? Gefällt es Ihnen?“

„Nein, nicht wirklich.“

„Warum machen Sie den Job dann?“

„Oh, mein Vater und mein Großvater waren beide Seelenjäger.“

„Und stolz auf ihren Job?“

„Mein Großvater auf jeden Fall!. Ich glaube mein Papa mag ihn auch nicht wirklich.“

„Und warum machen Sie dann nicht einfach etwas anderes?“

„Was soll ich denn sonst machen?“

„Naja, wofür interessieren Sie sich denn so?“

„Oh, ich mag Musik.“

„Das ist doch schön. Können Sie nicht Muse werden oder so?“

„Muse? Das ist doch was für Mädchen!“

„Also bitte – wir sind im 21. Jahrhundert. Da gibt es doch auch eine ganze Reihe weiblicher Künstler, die inspiriert werden wollen.“

„Und dann soll ich mich um Girlgroups kümmern?“

„Das wäre nicht so Ihr Ding?“

„Nee…“

„Naja, aber es gibt ja auch männliche Künstler, die vielleicht ganz gerne von…“

„Ich soll eine schwule Muse werden?“

„Ganz so hab’ ich das jetzt nicht…“

„Dann könnte ich solche Leute wie Freddy Mercury, Elton John oder George Michael inspirieren. Vielleicht manchmal sogar Robbie…“

„Ich denke schon. Freddy und George vielleicht nicht mehr, aber die anderen – warum nicht?“

„Das wäre toll! Aber…“

„Was?“

„Was wird mein Vater dazu sagen, wenn ich das Familienbusiness aufgebe?“

„Naja, vielleicht könnte ich ja mal mit ihm reden.“

„Das würden Sie tun?“

„Ach, wie oft hat man schon die Chance, dafür zu sorgen, dass die Welt mehr Musen als seelenraubende Dämonen bekommt.“

„Klasse! Ich schicke ihn gleich vorbei!“

„Oh, vielleicht könnte er einfach nach der Arbeit kommen. Ich denke ich würde das Gespräch gerne rein privat halten.“

„Ah, ja. Klar. Werde ich ihm ausrichten. Und danke, vielen, vielen Dank!“

„Ach, und noch etwas.“

„Ja?“

„Wenn Sie den Job bekommen, schicken Sie mir doch mal eine Kollegin vorbei.“

„Natürlich! Wird gemacht.“

„Danke. Zur Zeit fallen mir nämlich wirklich nur ganz skurrile Sachen ein.“

05.02.2007