Livia sah fasziniert auf das
Gewimmel unter ihr herab.
Auf den ersten Blick war da nur
Chaos, ein heilloses Durcheinander wo alles ohne Sinn und Verstand in beliebige
Richtungen eilte. Aber wenn sich das Auge langsam eingewöhnt hatte, dann
erkannte Livia die einzelnen Pfade der Wesen dort am Boden. Jedes folgte seinem
Weg, lief wie von einem inneren Drang getrieben auf sein unbekanntes Ziel zu.
Wo sich eines den Weg gebahnt hatte, folgten andere und so bildeten sich kleine
Gruppen, Ströme bis jeder geschäftig eilte ohne dass sie in dem Gewimmel aneinanderstießen.
Wohin die Wesen dort am Boden
eilten war meist nicht zu erahnen. Manche trugen Nahrung und andere die
kleineren, unförmigen und hilflosen Wesen, die wohl ihre Larven waren. Manche
trugen kleine oder größere Gegenstände.
Aber was Livia am meisten
faszinierte, waren die Momente, wenn zwei der Wesen sich näher begegneten. Oft
betasteten sie sich kurz mit ihren langen, dünnen Gliedmaßen und blieben eine
Weile zusammen stehen. Begriffen sie, dass ihnen ein Wesen gegenüberstand, das
war wie sie selbst? Kommunizierten sie vielleicht sogar?
Aber worüber sprachen Wesen, die
so an den Boden gebunden waren? Redeten sie über Unebenheiten, Kurven im Weg
und Hindernisse oder waren sie sich auch der Welt über ihren Köpfen bewusst?
Hatten manche von ihnen vielleicht sogar Livia gesehen? Aber ihre Reaktion war
nicht zu erkennen. Oder war ihnen die Beobachterin weit über ihrem Horizont
schlicht egal?
Livia wusste, dass sie auf das
Wetter reagierten. Bei Regen eilten sie in ihre Bauten und an besonders heißen
Tagen wurden sie oft träge und eilten langsamer mit mehr kurzen Pausen. Aber
war das nur Instinkt oder bewerteten sie den Regen und die Sonne und reagierten
bewusst? Was taten sie in ihren Bauten? Schliefen und Fraßen sie dort nur oder
lebten und liebten sie in ihrer eigenen Welt?
Ein Schauer der Erregung lief
über Livias Rücken während sie sich wunderte ob diese Wesen, die dort ziellos
unter ihr wimmelten vielleicht genauso verständnislos zu ihr heraufsahen und nicht
begreifen konnten, was in ihrem Kopf vor sich ging. Es war als täte sich eine
neue, fremde, faszinierende Welt auf – zum Greifen nah und doch unbegreiflich!
Aber gerade jetzt kamen die
anderen an. Sofort setzte das übliche Geplapper ein und Livia fühlte sich für
einen Moment unangenehm aus ihren Gedanken gerissen, bevor die Gespräche sie
begannen in ihren Bann zu ziehen. Fast wehmütig warf sie einen letzten Blick
auf das rege Treiben unter sich, dann gab sie sich dem Plaudern mit ihren
Freunden hin. Nur ihre Gedanken über die Wesen da am Boden behielt sie für
sich.
Sie glaubte nicht, dass
irgendeine der anderen Tauben ihr Interesse an Menschen teilte.
Heidelberg, 8. September 2017
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