Freitag, 8. September 2017

Gewimmel



Livia sah fasziniert auf das Gewimmel unter ihr herab.
Auf den ersten Blick war da nur Chaos, ein heilloses Durcheinander wo alles ohne Sinn und Verstand in beliebige Richtungen eilte. Aber wenn sich das Auge langsam eingewöhnt hatte, dann erkannte Livia die einzelnen Pfade der Wesen dort am Boden. Jedes folgte seinem Weg, lief wie von einem inneren Drang getrieben auf sein unbekanntes Ziel zu. Wo sich eines den Weg gebahnt hatte, folgten andere und so bildeten sich kleine Gruppen, Ströme bis jeder geschäftig eilte ohne dass sie in dem Gewimmel aneinanderstießen.
Wohin die Wesen dort am Boden eilten war meist nicht zu erahnen. Manche trugen Nahrung und andere die kleineren, unförmigen und hilflosen Wesen, die wohl ihre Larven waren. Manche trugen kleine oder größere Gegenstände.
Aber was Livia am meisten faszinierte, waren die Momente, wenn zwei der Wesen sich näher begegneten. Oft betasteten sie sich kurz mit ihren langen, dünnen Gliedmaßen und blieben eine Weile zusammen stehen. Begriffen sie, dass ihnen ein Wesen gegenüberstand, das war wie sie selbst? Kommunizierten sie vielleicht sogar?
Aber worüber sprachen Wesen, die so an den Boden gebunden waren? Redeten sie über Unebenheiten, Kurven im Weg und Hindernisse oder waren sie sich auch der Welt über ihren Köpfen bewusst? Hatten manche von ihnen vielleicht sogar Livia gesehen? Aber ihre Reaktion war nicht zu erkennen. Oder war ihnen die Beobachterin weit über ihrem Horizont schlicht egal?
Livia wusste, dass sie auf das Wetter reagierten. Bei Regen eilten sie in ihre Bauten und an besonders heißen Tagen wurden sie oft träge und eilten langsamer mit mehr kurzen Pausen. Aber war das nur Instinkt oder bewerteten sie den Regen und die Sonne und reagierten bewusst? Was taten sie in ihren Bauten? Schliefen und Fraßen sie dort nur oder lebten und liebten sie in ihrer eigenen Welt?
Ein Schauer der Erregung lief über Livias Rücken während sie sich wunderte ob diese Wesen, die dort ziellos unter ihr wimmelten vielleicht genauso verständnislos zu ihr heraufsahen und nicht begreifen konnten, was in ihrem Kopf vor sich ging. Es war als täte sich eine neue, fremde, faszinierende Welt auf – zum Greifen nah und doch unbegreiflich!
Aber gerade jetzt kamen die anderen an. Sofort setzte das übliche Geplapper ein und Livia fühlte sich für einen Moment unangenehm aus ihren Gedanken gerissen, bevor die Gespräche sie begannen in ihren Bann zu ziehen. Fast wehmütig warf sie einen letzten Blick auf das rege Treiben unter sich, dann gab sie sich dem Plaudern mit ihren Freunden hin. Nur ihre Gedanken über die Wesen da am Boden behielt sie für sich.
Sie glaubte nicht, dass irgendeine der anderen Tauben ihr Interesse an Menschen teilte.

Heidelberg, 8. September 2017

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