Mein
Name ist Diros. Ich bin ein Atlanter - und stolz darauf, denn
Atlantis ist die beste aller möglichen Gesellschaften. Wir leben in
Frieden und Wohlstand. Unsere technische Überlegenheit schreckt seit
Jahrzehnten jeden möglichen Angreifer ab und vor inneren Gefahren
wird unser Volk durch unsere harte aber gerechte Justiz geschützt.
Solange
ich denken kann ist dies der Inbegriff einer perfekten Gesellschaft
für mich. Niemand den ich kenne hat jemals Hunger erleiden müssen
oder ist schon einmal Opfer eines Verbrechens geworden. Alle haben
eine Arbeit, die sie ausfüllt und genug freie Zeit, um ihrer
Kreativität nachzugehen, Sport zu treiben oder die vielfältigen
Freizeitangebote wie Theater, Tierschauen und politische Diskussionen
zu genießen. Unsere geräumigen Häuser strahlen in weißem Kalk
oder Marmor, jedes mit einem gemütlichen kleinen Garten. Überall
begleitet einen das Lachen von Kindern und der Gesang der Vögel. Ich
wüsste nicht, wo die Menschen glücklicher sein könnten.
***
Doch
dann am vierten Gelon im fünfzehnten Jahr des Regenten Loros geschah
etwas, das mein Leben verändern sollte. Ich war gerade auf dem Weg
nach Hause von meiner Arbeit als Schreiber, als ich ein seltsames
Geräusch aus dem Haus unserer Nachbarn hörte. Ich blieb stehen und
lauschte - als sich das Geräusch wiederholte, war ich mir sicher:
Dies war das Stöhnen eines verletzten Menschen. Natürlich lief ich
in das Haus, denn wenn meine Nachbarn einen Unfall gehabt hatten, war
es natürlich meine Pflicht, zu helfen - immerhin hätte ich das
gleiche von ihnen erwartet, wenn die Lage andersherum gewesen wäre.
Als ich aber in ihren Hauptwohnraum trat, blieb mir beinahe der Atem
stehen - mein Nachbar lag in einer Lache aus Blut, der Schädel
eingeschlagen und seine Frau daneben. Sie war es, die noch in der
Lage war zu Stöhnen, und ich kniete mich neben sie, um zu sehen, was
ich für sie tun könnte. Doch als ich ihren Oberkörper anhob, sah
sie mich nur noch einmal mit schmerzverzerrten Augen an, bevor ihr
Blick brach und ihr Körper erschlaffte. Ich kniete noch immer in der
Blutlache mit ihr im Arm, als zwei Männer von der Stadtwache das
Haus betraten. Als sie mich so sahen - blutbesudelt und mit zwei
Toten neben mir - nahmen sie mich mit.
***
Natürlich
war ich erschüttert. Aber ich hatte keine Angst, denn ich hatte
Vertrauen in unsere Justiz. Niemand konnte verurteilt werden, bis
seine Schuld bewiesen war. Bevor das Gericht ein Urteil sprach,
wurden sehr genau Zeugen verhört, Motive und Indizien geprüft und
dem Angeklagten alle Möglichkeiten zur Verteidigung gegeben. Also
ging ich zuversichtlich am nächsten Tag in den Gerichtssaal. Ich
grüßte die Nachbarn, die als Zeugen geladen waren und mich mit
einer Mischung aus Neugier und Unbehagen betrachteten. Doch als die
Verhandlung fortschritt, sank meine Zuversicht. Die Aussagen meiner
Nachbarn waren alles andere als das, was ich erwartet hatte:
„Ja, ich habe ihn
gestern in das Haus gehen sehen...“
„Naja, manchmal
gab es schon einen kleinen Streit unter Nachbarn - sie verstehen?“
„Sie war so eine
hübsche Frau, die Arme...“
„Ich glaube, die
beiden hatte eine Affäre...“
„Sie wollte nichts mehr mit
ihm zu tun haben!“
„Vielleicht hat er es ja aus
Eifersucht getan...“
„Ob ich es ihm zutrauen würde
- Naja, kräftig genug wäre er wohl...“
Es kam mir vor,
als wäre es ihnen wichtiger, sich den Mund über Gerüchte und
Mutmaßungen zu zerreißen und einen Sündenbock zu finden, als die
Wahrheit zu Tage zu bringen. Natürlich hatte ich am Ende keine
Chance. Ich wurde verurteilt. Verurteilt zur einzigen Strafe, die das
Volk von Atlantis kennt: Verbannung! Mein Leben schien wie ein zu
Boden gefallenes Glas zu zerbrechen.
***
Früh
am nächsten Morgen fand ich mich am Hafen wieder. Zwei Männer von
der Stadtwache, die für mich Zeit meines Lebens der Inbegriff für
meine Sicherheit gewesen war, stießen mich in ein winziges Ruderboot
und deuteten mit ihren Lanzen auf die Hafenausfahrt. Im Wissen, dass
Widerstand gegen die gepanzerten, gut ausgebildeten Wächter sinnlos
war, ruderte ich los.
Bald
hatte ich die hohen Hafenmauern hinter mir gelassen. Was früher ein
Symbol für Geborgenheit und Schutz war, wirkte jetzt als
bedrohliche, abweisende Barriere, bestückt mit Katapulten, die mein
kleines Boot in Stücke zerreißen würden, wenn ich versuchen würde
umzukehren. Nach gut einer Stunde Rudern, verließ mich auch mein
letztes bisschen Selbstbeherrschung und ich brach weinend und in
meiner Nussschale auf dem weiten Meer verloren zusammen.
***
Ich
trieb einen Tag und eine Nacht auf dem Meer, ein Spielball der
Wellen. Ich hatte längst aufgegeben zu rudern oder festzustellen, wo
ich Land finden könnte. Als mein Boot an den Strand gespült wurde,
war ich schon zu schwach und geistig zu abgestumpft, um das Wunder
meines Überlebens überhaupt zu erkennen. Doch dann erkannte mein
müdes Auge etwas, das mich aufschrecken ließ. Über den Strand kam
eine Schar von Leuten auf mich zu. Sie trugen eindeutig atlantische
Kleidung, die jedoch dreckig und zerrissen war. Außerdem hatte ich
noch nie Atlanter gesehen, die so schwer bewaffnet und gerüstet
waren und so grimmige Gesichter trugen: Die Verstoßenen, die
verbannten Verbrecher, der Abschaum von Atlantis! Zwei der
furchterregenden Gestalten, ein kräftiger Mann mit Augenklappe und
eine Frau im Schuppenpanzer zerrten mich aus meinem Boot und brachten
mich zu ihrem Anführer. Dieser sah mich kurz an, drückte mir ein
Schwert in die Hand und sprach mich an: „Hier, nimm das und
folge uns - heute Abend wird die Insel brennen!“
Erst
jetzt bemerkte ich die riesigen Kriegsschiffe, deren Rümpfe auf die
Insel Atlantis am fernen Horizont gerichtet waren...
Roland Gromes, 1998
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