Sonntag, 10. September 2017

Eine perfekte Gesellschaft?

Mein Name ist Diros. Ich bin ein Atlanter - und stolz darauf, denn Atlantis ist die beste aller möglichen Gesellschaften. Wir leben in Frieden und Wohlstand. Unsere technische Überlegenheit schreckt seit Jahrzehnten jeden möglichen Angreifer ab und vor inneren Gefahren wird unser Volk durch unsere harte aber gerechte Justiz geschützt.
Solange ich denken kann ist dies der Inbegriff einer perfekten Gesellschaft für mich. Niemand den ich kenne hat jemals Hunger erleiden müssen oder ist schon einmal Opfer eines Verbrechens geworden. Alle haben eine Arbeit, die sie ausfüllt und genug freie Zeit, um ihrer Kreativität nachzugehen, Sport zu treiben oder die vielfältigen Freizeitangebote wie Theater, Tierschauen und politische Diskussionen zu genießen. Unsere geräumigen Häuser strahlen in weißem Kalk oder Marmor, jedes mit einem gemütlichen kleinen Garten. Überall begleitet einen das Lachen von Kindern und der Gesang der Vögel. Ich wüsste nicht, wo die Menschen glücklicher sein könnten.
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Doch dann am vierten Gelon im fünfzehnten Jahr des Regenten Loros geschah etwas, das mein Leben verändern sollte. Ich war gerade auf dem Weg nach Hause von meiner Arbeit als Schreiber, als ich ein seltsames Geräusch aus dem Haus unserer Nachbarn hörte. Ich blieb stehen und lauschte - als sich das Geräusch wiederholte, war ich mir sicher: Dies war das Stöhnen eines verletzten Menschen. Natürlich lief ich in das Haus, denn wenn meine Nachbarn einen Unfall gehabt hatten, war es natürlich meine Pflicht, zu helfen - immerhin hätte ich das gleiche von ihnen erwartet, wenn die Lage andersherum gewesen wäre. Als ich aber in ihren Hauptwohnraum trat, blieb mir beinahe der Atem stehen - mein Nachbar lag in einer Lache aus Blut, der Schädel eingeschlagen und seine Frau daneben. Sie war es, die noch in der Lage war zu Stöhnen, und ich kniete mich neben sie, um zu sehen, was ich für sie tun könnte. Doch als ich ihren Oberkörper anhob, sah sie mich nur noch einmal mit schmerzverzerrten Augen an, bevor ihr Blick brach und ihr Körper erschlaffte. Ich kniete noch immer in der Blutlache mit ihr im Arm, als zwei Männer von der Stadtwache das Haus betraten. Als sie mich so sahen - blutbesudelt und mit zwei Toten neben mir - nahmen sie mich mit.
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Natürlich war ich erschüttert. Aber ich hatte keine Angst, denn ich hatte Vertrauen in unsere Justiz. Niemand konnte verurteilt werden, bis seine Schuld bewiesen war. Bevor das Gericht ein Urteil sprach, wurden sehr genau Zeugen verhört, Motive und Indizien geprüft und dem Angeklagten alle Möglichkeiten zur Verteidigung gegeben. Also ging ich zuversichtlich am nächsten Tag in den Gerichtssaal. Ich grüßte die Nachbarn, die als Zeugen geladen waren und mich mit einer Mischung aus Neugier und Unbehagen betrachteten. Doch als die Verhandlung fortschritt, sank meine Zuversicht. Die Aussagen meiner Nachbarn waren alles andere als das, was ich erwartet hatte:
Ja, ich habe ihn gestern in das Haus gehen sehen...“
Naja, manchmal gab es schon einen kleinen Streit unter Nachbarn - sie verstehen?“
Sie war so eine hübsche Frau, die Arme...“
Ich glaube, die beiden hatte eine Affäre...“
Sie wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben!“
Vielleicht hat er es ja aus Eifersucht getan...“
Ob ich es ihm zutrauen würde - Naja, kräftig genug wäre er wohl...“
Es kam mir vor, als wäre es ihnen wichtiger, sich den Mund über Gerüchte und Mutmaßungen zu zerreißen und einen Sündenbock zu finden, als die Wahrheit zu Tage zu bringen. Natürlich hatte ich am Ende keine Chance. Ich wurde verurteilt. Verurteilt zur einzigen Strafe, die das Volk von Atlantis kennt: Verbannung! Mein Leben schien wie ein zu Boden gefallenes Glas zu zerbrechen.
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Früh am nächsten Morgen fand ich mich am Hafen wieder. Zwei Männer von der Stadtwache, die für mich Zeit meines Lebens der Inbegriff für meine Sicherheit gewesen war, stießen mich in ein winziges Ruderboot und deuteten mit ihren Lanzen auf die Hafenausfahrt. Im Wissen, dass Widerstand gegen die gepanzerten, gut ausgebildeten Wächter sinnlos war, ruderte ich los.
Bald hatte ich die hohen Hafenmauern hinter mir gelassen. Was früher ein Symbol für Geborgenheit und Schutz war, wirkte jetzt als bedrohliche, abweisende Barriere, bestückt mit Katapulten, die mein kleines Boot in Stücke zerreißen würden, wenn ich versuchen würde umzukehren. Nach gut einer Stunde Rudern, verließ mich auch mein letztes bisschen Selbstbeherrschung und ich brach weinend und in meiner Nussschale auf dem weiten Meer verloren zusammen.
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Ich trieb einen Tag und eine Nacht auf dem Meer, ein Spielball der Wellen. Ich hatte längst aufgegeben zu rudern oder festzustellen, wo ich Land finden könnte. Als mein Boot an den Strand gespült wurde, war ich schon zu schwach und geistig zu abgestumpft, um das Wunder meines Überlebens überhaupt zu erkennen. Doch dann erkannte mein müdes Auge etwas, das mich aufschrecken ließ. Über den Strand kam eine Schar von Leuten auf mich zu. Sie trugen eindeutig atlantische Kleidung, die jedoch dreckig und zerrissen war. Außerdem hatte ich noch nie Atlanter gesehen, die so schwer bewaffnet und gerüstet waren und so grimmige Gesichter trugen: Die Verstoßenen, die verbannten Verbrecher, der Abschaum von Atlantis! Zwei der furchterregenden Gestalten, ein kräftiger Mann mit Augenklappe und eine Frau im Schuppenpanzer zerrten mich aus meinem Boot und brachten mich zu ihrem Anführer. Dieser sah mich kurz an, drückte mir ein Schwert in die Hand und sprach mich an: „Hier, nimm das und folge uns - heute Abend wird die Insel brennen!“
Erst jetzt bemerkte ich die riesigen Kriegsschiffe, deren Rümpfe auf die Insel Atlantis am fernen Horizont gerichtet waren...
 Roland Gromes, 1998

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